Die Frage, ob der Mensch sich durch die Vernunft leiten lässt oder ob er nicht doch allzu oft dem animalischen Trieb nach hemmungsloser Ungezügeltheit folgt, hat nichts an Aktualität eingebüßt. In einer beeindruckenden Inszenierung des Stückes „Die Bakchen“ von Euripides durch ein Kooperationsprojekt des P-Seminars Theater Q12 und des Wahlkurses „Griechisches Theater“ des Albrecht-Ernst-Gymnasiums wurden die Zuschauer eingeladen, sich mit diesem Konflikt auseinanderzusetzen.
Dionysios, der in latinisierter Form Bacchus heißt, ist als Gott des Rausches und des Weins zutiefst verärgert, weil er in seiner Geburtsstadt Theben nicht mehr verehrt wird. Er beschließt deshalb in Menschengestalt verwandelt auf die Erde zurückzukehren und seine Macht unter Beweis zu stellen. Hervorragend dargestellt von Florian Wunderle – ganz in Weiß und Silber gekleidet und stets mit einem gefüllten Weinkelch in der Hand – beginnt der Gott seinen Rachefeldzug. Er schart alle Frauen der Stadt um sich, die augenblicklich einem ekstatischen und wahnhaften Rausch verfallen und auf den Berg Kithairon ausziehen, wo sie sich in einer Art Trance langen Weinorgien hingeben.
Mit verführerischen Posen und hingebungsvollen Tänzen sowie ausdrucksstarken Gesangseinlagen verleihen nun die Bakchen, die neu gewonnenen Verehrerinnen des Dionysos, ihrer Anhängerschaft für den Gott Ausdruck. Die Darstellerinnen mit ihren weinumrankten Kränzen und langen grünen Umhängen vermittelten den Zuschauern sehr anschaulich den Eindruck der nun ausgebrochenen lasziven Zügellosigkeit.
Grandios verkörpert von Saskia Kleemann befindet sich selbst Agaue, die Mutter des Herrschers Pentheus, unter ihnen und gibt sich trunken Dionysos und seinen Genüssen hin.
Doch gerade ihr Sohn Pentheus tritt als Repräsentant der Vernunft auf und wagt es als Einziger in Theben, den Kampf gegen den übermächtigen Gott des Rausches anzutreten. Mit seiner phänomenalen Darstellungsweise verleiht Jonathan Trinks dem Herrscher auf mitreißende und aufrüttelnde Art und Weise ein sehr lebendiges Gesicht: Unbeirrt, willensstark und zielbewusst, aber auch verbissen und stur lässt er sich weder von dem Ehrfurcht gebietenden Seher und blinden Priester Teiresias, als der sehr überzeugend David Foit auftrat, noch von seinem Großvater, dem abgedankten König Kadmos, der eindrucksvoll von Max Rödel gespielt wurde, von seinem Vorsatz abbringen, mit Waffengewalt gegen die Bedrohung seiner Stadt vorzugehen.

Doch als er Dionysos und die Bakchen festgenommen und eingesperrt hat, entkommen diese problemlos aus der Gefangenschaft und der unbezähmbare frivole Gott steht dem vernunftgeleiteten Herrscher erstmalig direkt gegenüber. Dank seiner übernatürlichen Kräfte gelingt es Dionysos, nun auch Pentheus in seinen Bann zu ziehen: Er überredet ihn, sich als Frau verkleidet mit ihm auf den Berg Kithairon zu den ungebändigten und besessenen Frauen zu begeben, um sie zu belauschen. Pentheus wird jedoch entdeckt und auf tragisch-unglückliche Weise von Agaue, seiner eigenen Mutter, und den anderen Bakchen in Stücke gerissen. Der verzweifelte Versuch, sich ihnen zu erkennen zu geben, scheitert und so hält am Ende die verblendete Agaue den Kopf ihres toten Sohnes stolz in die Höhe in der festen Überzeugung, dass es sich um einen erlegten Berglöwen handelt.
Es folgt der furchtbare Moment der Erkenntnis, als Kadmos seine Tochter Agaue aus ihrer Selbstentfremdung zurückholt und ihr bewusstmachen muss, was sie getan hat. Die erschütterte Mutter bricht zusammen und bleibt am Ende des Stücks als gebrochene Frau zurück.Die zerstörerische Kraft ekstatischer Entrückung ist damit eindrücklich vor Augen geführt, doch was die damit in Verbindung stehenden Fragen angeht, so folgte die Leiterin des P-Seminars Ruth Gruber-Stöcklein, die gemeinsam mit ihren beiden Kollegen Jürgen Sellnow und Klaus Karrer vom Wahlkurs „Griechisches Theater“ für die Inszenierung verantwortlich zeichnet, ganz der Intention des Euripides und enthielt sich einer Deutung.
Wie Saskia Kleemann in ihrem brillant verfassten Begleittext zum Stück schrieb, so lässt sich die Vielschichtigkeit des Werks auch nicht auf eine Aussage beschränken. Heutzutage scheinen viele Menschen statt eines Strebens nach Ekstase vielmehr freiwillig ihre Freiheit aufzugeben und es sich nach der Preisgabe ihrer Daten „auf dem Sofa mit der digitalen Fußfessel bequem“ zu machen. So waren die Zuschauer, die sich bei den jungen Darstellern mit einem begeisterten Applaus für die vorzügliche Darbietung bedankten, am Ende eingeladen, sich selbst eine Meinung über die gegensätzlichen Kräfte einer sittenstrengen Ordnung einerseits und einem ungezügelten Freiheitsdrang andererseits zu bilden.