Einen Schuljahresauftakt der besonderen Art erlebten die Oberstufenschüler des Albrecht-Ernst-Gymnasiums Oettingen. Am zweiten Schultag verfolgten die ca. 300 Schülerinnen und Schüler der 10., 11. und 12. Jahrgangsstufe in der voll besetzten Aula des Gymnasiums gespannt und aufmerksam die Lesung des österreichischen Autors Franzobel aus seinem Roman  „Das Floß der Medusa“. Durch die Berufung zum Stadtschreiber von Weißenburg, die Verleihung des Nicolas Born-Preises, die Besprechung seines jüngsten Erfolgsromans in der Literatursendung Literarisches Quartett und vor allem durch die Platzierung auf der sog. Shortlist des Buchhandels und die Wahl zu einem der sechs wichtigsten literarischen Neuerscheinungen 2017 ist Franz Griebl, der seine Bücher in der Tradition von Novalis und Jean Paul unter einem Pseudonym veröffentlicht , mit dem er im Übrigen auch vorgestellt und angesprochen werden will, endgültig der Sprung vom mit mehrfach durch Literaturpreise ausgezeichneten Geheimtip zum hochkarätigen Vertreter der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur gelungen.

Dass Franzobels jüngstes Werk schon durch seinen ebenso abenteuerlichen wie makabren Inhalt Faszination für Leser aller Altersstufen und Gesellschaftsschichten enthält, machte die Lesung im Albrecht-Ernst-Gymnasium mehr als deutlich: Gebannt verfolgten die Jugendlichen genauso wie die erwachsenen Besucher Franzobels Geschichte vom historisch bezeugten Schiffbruch der „Medusa“ im Jahr 1816, einer der größten Katastrophen der Seefahrt. 15 Menschen von ursprünglich 147 Passagieren haben überlebt – aber nur ihr nacktes Leben als Kreatur gerettet, ihre Menschenwürde dabei verloren, weil sie zu Kannibalen geworden sind, die ihre Kameraden und Freunde gegessen haben, nur um weiter existieren zu können. Franzobel gelang es in Oettingen, durch seine eher sachlich gehaltene als auf Emotionen zielende Rezitation ungeheuerlicher, aber historisch verbürgter Ereignisse die Zuhörer zur Kritik zu provozieren. Mehrere Fragen aus dem Kreis der Schüler zeigten, dass ihnen das Verhalten der Überlebenden keine Ruhe ließ, dass sie das Dilemma von bloßem Überleben durch Verlust der Menschlichkeit zu Widerspruch und Nachdenken herausforderte. Franzobel verwies bei diesen Fragen regelmäßig so nonchalant wie stoisch auf die geschichtlichen Ereignisse, verriet dann aber nach einer entsprechenden Frage, dass ihn zunehmend das Schicksal der in Europa asylsuchenden Bootsflüchtlinge beim Schreiben begleitet habe: Seine dreijährigen Archivrecherchen zum  historischen Untergang der „Medusa“  seien  immer wieder überlagert gewesen von aktuellen Bildern der an den Stränden von Italien und Griechenland gestrandeten Leichen und daneben der ausgemergelten Gesichter der Überlebenden, die ihr Ziel durch ihr bloßes Überleben erreicht, dabei aber viel verloren hätten. Auch wenn sich der Autor den Kategorien literarischer Einordnung eher widersetzte, gestand er zu, dass man sein Buch ebenso als Abenteuerroman wie als historische Parabel lesen könne. Er selbst sei einfach durch das Thema gefesselt gewesen, wie weit der Mensch gehen und gleichzeitig Mensch bleiben könne.

Mit großem Applaus würdigten die Schülerinnen und Schüler am Ende der Lesung die Ausführungen des Schriftstellers. Oberstufenbetreuer Manfred Pausch bedankte sich bei der Oettinger Bücherstube für ihre Hilfe bei der Verpflichtung eines so hochkarätigen Autors mit derzeit durchschnittlich zwei Lesungen pro Woche. Er wünschte Franzobel im Namen der Oettinger Schüler Erfolg bei der Verleihung des Deutschen Buchpreises während der Frankfurter Buchmesse im Oktober. Seine Hoffnung, die Schüler seien durch den Vortrag zum Lesen animiert worden, wurde durch den Andrang beim Verkauf der Bücher gestärkt: Franzobel nahm sich geduldig die Zeit, die verkauften Büchner nicht nur mit seinem Pseudonym zu signieren, sondern jeweils mit einer individuellen Skizze zu gestalten, die sich in irgendeiner Weise auf „Das Floß der Medusa“ bezog. Eine so lebendige Schule würde er sich öfter wünschen; hoffentlich seien die Oettinger Schüler nicht nur am Anfang des Schuljahrs so motiviert – mit diesen Komplimenten reiste der Autor nach dem Mittagessen weiter – um am nächsten Tag in Hannover den mit 20000 Euro dotierten Nicolas Born-Preis entgegenzunehmen.