Vom ersten Augenblick an hatte die französische Geschichtenerzählerin aus der Nähe von Nizza die volle Aufmerksamkeit der Schüler, die den einführenden Worten der Muttersprachlerin mit großem Interesse lauschten. In Frankreich trägt Catherine Bouin ihre Märchen aus aller Welt nicht nur Kindern, sondern regelmäßig auch Erwachsenen vor, u. a. Gefängnisinsassen.

Mehrere Wochen im Jahr verbringt sie aber auch in Deutschland und erzählt Schülern Geschichten in französischer Sprache. Während ihres Besuchs am A-E-G durften sich nacheinander die Französisch-Gruppen von der 8. bis zur 11. Jahrgangsstufe verschiedene Erzählungen anhören.

Catherine Bouin besitzt die außerordentliche Fähigkeit, sich dabei auf das jeweilige Sprachniveau der Schüler voll und ganz einzustellen. Dank ihres anschaulichen Erzählstils und ihres guten Gespürs für ihr Publikum gelingt es ihr, Bilder im Kopf entstehen zu lassen, die das Verstehen ermöglichen. Mimik und Gestik setzt sie ausdrucksstark ein und zieht die Zuhörer gekonnt in ihren Bann.

So konnten auch die Schüler der 8. Klasse, die erst seit einem halben Jahr Französisch lernen, dem Handlungsverlauf einer Erzählung mithilfe kleiner Zeichnungen an der Tafel folgen und beispielsweise die Geschichte des provenzalischen Ehepaares Jean et Jeanne im Anschluss problemlos auf Deutsch nacherzählen: Jean und Jeanne leben in einem schönen Haus und bewirtschaften gemeinsam einen großen Garten. Tagsüber arbeitet Jean in der Stadt und Jeanne versorgt die Pflanzen, abends widmet sich dann Jean der Gartenarbeit. In einer Ecke des Gartens gibt es ein Beet, in dem noch nichts wächst und Jean beschließt eines Abends, seine Frau zu überraschen und heimlich Salat anzupflanzen, den sie liebt, auch wenn er selbst ihn nicht mag. Am Morgen sieht auch Jeanne das leere Beet und beschließt, ihren Mann zu überraschen und heimlich Karotten anzupflanzen, die er liebt, auch wenn sie selbst sie nicht mag.

Nach einigen Tagen sind die ersten Triebe sichtbar und Jeanne entfernt jeden Morgen die Pflanzen, die keine Karotten sind, während Jean am Abend alles jätet, was keine Salatpflanze ist. Am Ende wächst im Beet nichts mehr und es zeigt sich, dass es zwar schön ist, jemandem eine Freude machen zu wollen, aber dass es auch wichtig ist, miteinander zu reden.

Nach dem Anhören dieser Geschichte konnten sich die Schüler des Anfangsunterrichts nun darin versuchen, Denkaufgaben wie beispielsweise das folgende Rätsel zu lösen: „Ils sont sept et quand l’un part, un autre arrive.“ (Sie sind sieben und wenn einer weggeht, kommt ein anderer an.). Die Schüler konnten erst gemeinsam knobeln und sobald sie auf die richtige Antwort „les jours de la semaine“ (die Wochentage) gekommen waren, konnten diese spielerisch wiederholt werden.

Sprachlich anspruchsvoller waren die Erzählungen für die Schüler der Q11, die bereits im vierten Lernjahr sind. Zudem waren die Oberstufenschüler nach dem Anhören einer ersten Geschichte dazu aufgefordert, selbst aktiv zu werden: Madame Bouin trug ihnen ein Märchen vor, in dem es mehrere Leerstellen gab, die die Schüler in Gruppenarbeit ergänzen sollten. Im Anschluss präsentierten sie ihre Ideen im Plenum und die Geschichtenerzählerin war begeistert von den vielen kreativen Vorschlägen.

Zur Belohnung für ihren Einsatz erzählte Catherine Bouin den Elftklässlern am Schluss noch eine wahre Begebenheit, die einer ihrer Bekannten erlebt hatte: Albert stand in einer schwierigen Phase seines Lebens ohne Arbeit, ohne Wohnung, ohne Familie und ohne Freunde da und saß tagsüber als Bettler auf der Straße.

Eines Tages hielt eine große Limousine in der Nähe und ein offensichtlich reicher Mann stieg aus und kam auf ihn zu. Anstatt ihm etwas von seinem Reichtum abzugeben, fragte er Albert, was dieser ihm zu geben habe. Albert war entsetzt und antwortete, dass er nichts besitze und nichts zu geben habe. An den folgenden Tagen kam der wohlhabende Mann stets zur gleichen Zeit und wiederholte seine Frage. Albert ärgerte sich eines Tages so sehr über diesen herzlosen Reichen, dass er aufstand und vor lauter Wut anfing zu singen. Der vermögende Mann bedankte sich für das, was Albert ihm gegeben hatte, und schenkte Albert einen Apfel. Albert war zunächst irritiert, sang aber an diesem Tag noch viele weitere Lieder und erhielt mehr Geld von den Passanten als sonst. Am Abend schließlich sang er nur für sich selbst und seine Gesamtsituation begann daraufhin bald, sich zu verbessern. Den Apfel hat er nie gegessen, sondern ihn als Erinnerung aufgehoben, auch wenn er mit der Zeit zusammengeschrumpft ist.

Mit spannenden und lehrreichen Geschichten wie dieser gelang es Catherine Bouin nicht nur, die Schüler jenseits des Grammatikunterrichts mit positiven Hörerlebnissen in französischer Sprache zu motivieren, sondern auch, sie auf unterhaltsame Weise mit tieferen Einsichten und Lebensweisheiten aus aller Welt zu bezaubern.

Merci beaucoup et à la prochaine fois!